Es gibt Bücher, die es schaffen, eine ganz explizite Stimmung zu transportieren. Dazu gehört für mich „Shy Girl“ von Elizabeth Stark.
Sobald man auch nur wenige Sätze gelesen hat, ist man von Melancholia ergriffen. Die rührt von dem dauerhaften Leben in der Vergangenheit her. Es ist Alta, die coole Bodypiercerin aus San Francisco, in der Szene bekannt wie ein bunter Hund (nicht zuletzt wegen ihrer sexuellen Abenteuer), die immer wieder in Erinnerungen schwelgt. Denn obwohl ihr Leben eigentlich erfüllt ist, hängt sie den Zeiten nach, in denen sie mit Shy glücklich war. Shy (die eigentlich Sasha heißt) war die Tochter der Nachbarin. Sie war zwei Jahre älter und freundete sich schnell mit Alta an. Bald war es Alta, die sich reifer fühlte. Sie wusste als Erste über ihre Gefühle für Shy, aber auch Shy spürte die Anziehungskraft, die bald über Freundschaft hinausging. Diese Erinnerungen wirken auf den Leser oft nicht wie ein literarisches Mittel sondern so wie Erinnerungen im realen Leben sind; nämlich viel mehr als nur Erlebtes; etwas, das einen bis ins Mark geprägt hat.
Altas Erinnerungen werden stärker denn je hervorgerufen, als sie die Nachricht erhält, dass Shys Mutter wegen einem Schlaganfall im Krankenhaus liegt. Die etwas eigenwillige Mrs. Mallon hat Alta damals bei sich aufgenommen, als diese mit ihrer eigenen Mutter zunehmend Probleme hatte. Mrs. Mallon ist daher viel mehr als nur eine Nachbarin. Sie ist der Rettungsanker, der Alta zwar auch mehr als genug Rätsel aufgegeben hat, aber den sie auch uneingeschränkt wertschätzt, weil sie von ihr immer so akzeptiert wurde, wie sie war.
Seit etlichen Jahren hatte Alta keinen Kontakt mehr zu Shy und wüsste auch gar nicht, wie sie sie erreichen sollte. Der Zufall will es, dass sie mit der Wiederwahltaste von Mrs. Mallons Telefon Erfolg hat. Shy sträubt sich erst, aber willigt schließlich ein, sich von Seattle auf den Weg zu machen. Sie hat ihre Mutter nicht mehr gesehen, seit sie nach der Schule fortgezogen ist und ihren eigenen Weg gegangen ist. Und jetzt hängt das Leben ihrer Mutter in der Schwebe.
Als Alta Shy vom Flughafen abholt, wartet die erste Überraschung auf Alta. Es ist nicht die letzte, die das Buch bereithält und je mehr Alta in der eigenen Vergangenheit gräbt, desto mehr Wahrheiten kommen ans Tageslicht – nicht immer zur Freude aller Beteiligten.
Was die optische Aufmachung angeht, so setzt Orlanda für das Cover auf eine Fotografie der bekannten Fotografin Anja Müller. Ich finde sie auch sehr ansprechend, aber leider decken die Frauen sich nicht mit dem Bild in meinem Kopf, das ich mir im Laufe des Lesens von Shy und Alta machte. Das tut dem Buch jedoch keinen Abbruch. Der Amerikanerin Elizabeth Stark ist mit „Shy Girl“ ein toller Roman gelungen, auf dessen Nachfolger wir weiterhin gespannt sein können („Shy Girl“ erschien 2002; in der Information zur Autorin stand, dass sie an einem nächsten Roman arbeitet).
Lieblingszitat: „"Aber Neugier ist auch eine Art Wissen, ein Wissen, dass es etwas zu wissen gibt." (S. 141)
Fazit: Atmosphärisch, berührend, unvergesslich.
Geeignet für: Melancholische Wanderungen in die Vergangenheit.